Neuigkeit –
25.7.2022
Das Kartellrecht richtet sich insbesondere gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die zwischen Wettbewerbern abgestimmt werden. Es gilt nicht nur für Vereinbarungen auf horizontaler Ebene zwischen Konkurrenten, etwa zwischen zwei Herstellern von LKW, Fahrstühlen oder Mikrochips, sondern auch für vertikale Verhältnisse, z.B. zwischen Herstellern und ihren Zulieferern und Abnehmern. Zwar sind direkte Absprachen zwischen Konkurrenten für einen effektiven Wettbewerb und eine freie Preisbildung regelmäßig schädlicher. Aber auch Wettbewerb auf dem Markt auf Zulieferer- und Abnehmerebene soll geschützt werden (zum Beispiel vor Preisabsprachen oder Gebietsaufteilungen).
Für den vertikalen Bereich zwischen Unternehmern und ihren vor- und nachgelagerten Partnern hat die EU daher einen umfangreichen Regelkatalog erlassen, der detailliert beschreibt, was konkret erlaubt oder verboten ist. Dieser ist im Regelwerk der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung zusammengefasst, kurz „Vertikal-GVO“. Die Verordnung ist zwar keine rechtliche Neuheit, sie wurde noch im letzten Jahrhundert in ihrer ursprünglichen Form erschaffen und sukzessive weiterentwickelt. Die letzten Änderungen in Form der Verordnung 720/2022 („neue Vertikal-GVO“) werden einige Aspekte vertikaler Vereinbarungen neu regeln. Das System bleibt allerdings gleich: Grundsätzlich ist jede wettbewerbsbeschränkende Abrede verboten, wenn sie nicht ausnahmsweise von der Vertikal-GVO freigestellt ist.
Im Folgenden stellen wir Ihnen die bedeutsamsten Aspekte der Reform vor.
Was gleich bleibt
In weiten Teilen behält die Verordnung ihre bekannte Struktur. Zu Beginn werden Begriffe definiert, die für das Verständnis der Verordnung wichtig sind. Darauf folgt der bekannte Grundsatz, dass vertikale Vereinbarungen nicht unter das Kartellverbot fallen, wenn Anbieter und Abnehmer jeweils keinen höheren Anteil als 30% am relevanten Markt haben („Freistellung“). Vereinbarungen fallen aber trotzdem unter das Kartellverbot, wenn sie sogenannte „Kernbeschränkungen“ enthalten – Absprachen, die besonders schädlich für den Wettbewerb sind (z.B. Festlegung von Mindestpreisen, Beschränkung des passiven Verkaufs, Beschränkung von Querlieferungen und Ersatzteillieferungen). Auch sonstige Vereinbarungen, die den Wettbewerb zu stark beschränken, sind nicht vom Kartellverbot freigestellt (z.B. Wettbewerbsverbote über mehr als fünf Jahre, Beschränkung des Verkaufs von Konkurrenzmarken). Daneben kann die Freistellung auch im Einzelfall entzogen werden. Die Berechnung von Marktanteils- und Umsatzschwellen sowie die gängigen Definitionen der bekannten Rechtsbegriffe haben sich auch nicht maßgeblich geändert.
Änderungen: Vertriebssysteme und Online-Handel
Sowohl die Vertikal-GVO als auch die Vertikalleitlinien (die Auslegungshilfen der Europäischen Kommission) wurden überarbeitet und ergänzt. Wichtige Begriffe wie der aktive Verkauf (aktives Kontaktieren von Kunden) und der passive Verkauf (reagieren auf eintreffende Kundenanfragen), der Begriff des „Anbieters“, des „Online-Vermittlungsdienstes“ und des „Alleinvertriebssystems“ sind nun definiert. Das dürfte künftig für mehr Klarheit sorgen.
In den Leitlinien finden sich nun weitere klarstellende Ergänzungen: Mindestpreisrichtlinien(„MAP“), nach denen ein Händler Produkte unterhalb eines bestimmten Preises nicht bewerben dürfen, werden von der Kommission als unzulässig eingestuft. Maßnahmen betreffend das Preismonitoring und das Preisreporting (Beobachtung der Preise) bleiben hingegen zulässig. Außerdem wurde klargestellt, dass stillschweigend verlängerte Wettbewerbsbeschränkungen nicht verboten sind, wenn der Abnehmer effektiv eine Neuverhandlung oder eine Beendigung der Vereinbarung einleiten kann.
Vertriebssysteme
Essenziell ist, dass die neue Vertikal-GVO eine ganz klare Unterscheidung nach Art des Vertriebssystems vornimmt. Ob ein Unternehmen mit einer konkreten Vereinbarung gegen Kartellrecht verstößt, kann also davon abhängen, ob ein Alleinvertriebssystem, ein selektives Vertriebssystem oder kein entsprechendes Vertriebssystem betroffen ist.
Weiterhin bleibt es den Unternehmen zwar grundsätzlich freigestellt, wie sie ihren Vertrieb organisieren. Alleinvertriebssysteme sind ebenso zulässig wie selektive Vertriebssysteme und der Vertrieb über „freie Händler“. Da die verschiedenen Systeme jedoch unterschiedlich stark in die wettbewerblichen Freiheiten ihrer Mitglieder eingreifen und unterschiedlich schutzbedürftig sind, sind je nach Vertriebssystem bestimmte Vereinbarungen zulässig, andere jedoch nicht.
Für jede Vertriebsart zulässige Beschränkungen
Anbieter dürfen – unabhängig von einem bestehenden Vertriebssystem – ihren Abnehmern bzw. Mitgliedern grundsätzlich folgende zulässige Beschränkungen auferlegen:
- Kein aktiver Verkauf in Exklusivgebiete (Gebiete, die der Anbieter sich oder maximal fünf Alleinvertriebshändlern vorbehält)
– diese Gebiete darf der Anbieter schützen
- Kein Weiterverkauf an nicht zugelassene Händler in Gebieten, in denen ein selektives Vertriebssystem eingerichtet ist
- Der Niederlassungsort des Abnehmers / Mitglieds darf beschränkt werden
- Großhändlern darf der aktive oder passive Verkauf an Endverbraucher verboten werden
- Es darf verboten werden, Teile an Kunden weiterzuverkaufen, die diese Teile für gleiche Waren wie die vom Anbieter
hergestellten Waren verwenden würden
Abseits dieser Ausnahmen bleibt es grundsätzlich verboten, den Abnehmern eine Beschränkung des Gebiets oder der Kundengruppe aufzuerlegen. Ein Verstoß gegen dieses Verbot würde eine Kernbeschränkung (engl. „hardcore restriction“) darstellen, die eine Nichtigkeit der Vereinbarung zur Folge hätte. Darüber hinaus sind derartige Verstöße mit empfindlichen Bußgeldern bedroht.
Alleinvertriebssysteme („exclusive distribution systems“)
Bei einem Alleinvertriebssystem wird ein Gebiet oder eine Kundengruppe dem Anbieter oder bestimmten Abnehmern exklusiv vorbehalten.
Bislang galt ein Alleinvertriebssystem nur als solches, wenn eine Zuweisung an maximal einen Abnehmer erfolgt. Nun kann ein Alleinvertriebssystem auch dann geschützt werden, wenn ihm bis zu fünf Abnehmer angehören.
In der neuen Verordnung sind Alleinvertriebssysteme nun besser geschützt: Ein Anbieter darf nicht nur seinen eigenen Direktkunden verbieten, aktiv in solche Gebiete zu verkaufen. Er darf ihnen sogar auferlegen, dass deren Direktkunden (auf zweiter Ebene) nicht aktiv in Exklusivgebiete verkaufen dürfen. Diese Freistellung gilt aber nur für Bindungen der Abnehmer auf zweiter Ebene, nicht für weiter nachgelagerte Ebenen. Mit dieser Regelung werden Vertriebssysteme besser vor aktiven Verkäufen bzw. Grauimporten aus anderen Gebieten geschützt.
Für den Wettbewerb bergen derartige Systeme die Gefahr, dass der markeninterne Wettbewerb verringert und der Markt aufgeteilt wird. Abweichende Regelungen für Alleinvertriebssysteme sieht die Vertikal-GVO deshalb zwar nicht vor, allerdings können diese Aspekte bei der Frage eine Rolle spielen, ob die Kommission im Einzelfall für die Vereinbarung die Freistellung entzieht.
Selektive Vertriebssysteme („selective distribution systems“)
Bei selektiven Vertriebssystemen verpflichtet sich ein Unternehmen, sein Angebot über Händler zu vertreiben, die anhand bestimmter vorher festgelegter Merkmale ausgewählt werden.
Die oben aufgeführten allgemeinen Grundsätze betreffend die Gebiets- und Kundenbeschränkungen und den aktiven und passiven Verkauf gelten grundsätzlich auch für selektive Vertriebssysteme.
Daneben ist die Beschränkung von Querlieferungen zwischen einzelnen Mitgliedern eines selektiven Vertriebssystems verboten. Auch die Beschränkung des Verkaufs an Endverbraucher ist vorbehaltlich bestimmter oben aufgeführter Grundsätze (Niederlassungsort, Exklusivgebiete) untersagt.
Online-Handel
Die neue Vertikal-GVO erkennt nun explizit die Bedeutung des Online-Handels für den Vertrieb an. Der Online-Vertrieb bietet die Möglichkeit, sich per Klick einen vollkommen neuen Absatzmarkt zu erschließen. Die Beschränkung des Online-Handels stellt demnach in der Regel einen starken Eingriff in die wettbewerbliche Gestaltungsfreiheit dar, weil sie das Absatzgebiet regelmäßig einschränkt, dies soll daher möglichst unterbunden werden. Die Kommission reagiert damit vor allem auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs („Coty“, „Asics“, „Pierre Fabre“).
In der Vertikal-GVO wurde daher ein neuer Verbotstatbestand geschaffen. Danach ist es grundsätzlich verboten, Vereinbarungen zu schließen, die dem Abnehmer oder seinen Kunden eine wirksame Nutzung des Internets zum Verkauf verbietet. Ein vertragliches Verbot der Nutzung von Online-Marktplätzen wie Ebay bleibt aber möglich, außerdem darf der Anbieter seinen Abnehmern Vorschriften betreffend die Qualität des eigenen Shops und das Erscheinungsbildes der Waren machen. In diesem Rahmen müssen die Kriterien für Online-Shops grundsätzlich auch nicht den Kriterien für den stationären Handel entsprechen. Ein Totalverbot aller Preisvergleichsinstrumente wird jedoch als verbotene Kernbeschränkung angesehen.
Daneben gibt es weitere Neuerungen für Online-Vermittlungsdienste. Diese dürfen ihren Abnehmern nicht vorschreiben, ihre Waren bei anderen Vermittlungsdiensten nicht günstiger anzubieten.
Verschiedene Preise für den Offline- und Onlineverkauf („dual pricing“) können durchgesetzt werden, solange sie nicht eine effektive Internetnutzung des Abnehmers verhindern oder eine Gebiets- oder Kundengruppenbeschränkung bezwecken.
Geltungsdauer, Inkrafttreten und Übergangszeit
Die Reform der Vertikal-GVO trat am 1. Juni 2022 in Kraft. Seitdiesem Tag müssen die neuen Regeln grundsätzlich berücksichtigt werden. Allerdings gibt es für bestehende Verträge eine Übergangszeit: Wer sich bislang für die Rechtmäßigkeit seiner Verträge an der alten Vertikal-GVO (VO 330/2010) orientiert hat, der muss seine Verträge erst bis zum 31. Mai 2023 anpassen.
Bei Fragen rund um vertikale Vereinbarungen wie Vertriebsvereinbarungen, ihre kartellrechtliche Bewertung und ihre Umsetzung in der Praxis stehen wir Ihnen gerne beratend zur Seite.
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