Publikation –

11.3.2021

Aktuelles EuGH-Urteil: Rufbereitschaft kann Arbeitszeit sein

Ist die Zeit eines Feuerwehrmanns, der zu Hause auf einen Einsatz wartet und bei Alarmierung binnen kurzer Zeit vor Ort sein muss, Arbeitszeit? Wann und in welcher Höhe muss diese eventuell vergütet werden? Wann liegt Bereitschaftsdienst und wann Rufbereitschaft vor?

EuGH zur Rufbereitschaft, Arbeitszeit und Vergütungserwartung

Wann zählt Rufbereitschaft als Arbeitszeit, wann als Freizeit? Zu dieser Frage musste der EuGH in zwei Fällen eines deutschen Feuerwehrmannes (Urteil v. 09.03.2021, Rs. C-580/19) und eines slowenischen Technikers (Urteil v. 09.03.2021, Rs. C344/19) erneut entscheiden, nachdem er bereits im Jahre 2018 hierzu Stellung genommen hatte (EuGH 21.2.2018– C-518/15, NZA2018, 293). Typischerweise geht mit der Frage, ob Arbeitszeit vorliegt, die Folgefrage einher, ob und ggf. wie diese „Arbeitszeit“ zu vergüten ist. Zu trennen ist insoweit die arbeitszeitrechtliche von der vergütungsrechtlichen Bewertung von Arbeitszeit, hier in der Form von Bereitschaftsdienst. Hierzu im Einzelnen:  

Sachverhalt

Ein in Offenbach tätiger Feuerwehrmann muss neben seiner regulären Dienstzeit regelmäßig zusätzlich Bereitschaftszeiten leisten. Während dieser Bereitschaftszeiten, die er zwar außerhalb der Dienststelle verbringen darf, muss er sicherstellen, erreichbar und in der Lage zu sein, im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Dienstkleidung samt Einsatzfahrzeug die Stadtgrenze zu erreichen. Er ist der Ansicht, diese Bereitschaftszeit stelle eigentlich eine Rufbereitschaft dar, sei in vollem Umfang als Arbeitszeit anzuerkennen und entsprechend zu vergüten. Dabei sei es unerheblich, ob er während dieser Zeit tatsächlich tätig war oder nicht. Nachdem der Feuerwehrmann eine Klage beim Verwaltungsgericht (VG) Darmstadt anhängig machte, legte dieses dem EuGH sodann die Frage vor, inwiefern Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft als "Arbeitszeit" oder als "Ruhezeit" im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen und entsprechend zu vergüten sind.

In Slowenien musste ein Sendetechniker hingegen auf Abruf abgelegene Sendeanlagen im slowenischen Gebirge binnen einer Stunde erreichen. Dies führte dazu, dass er faktisch mehrere Tage hintereinander in den Bergen verbrachte, um dort den Betrieb von Fernsehsendeanlagen zu überwachen und sicherzustellen. Neben seiner Arbeitszeit musste er in Form einer Rufbereitschaft erreichbar sein, was in Folge seines Aufenthaltsorts in den Bergen so endete, dass er mangels Freizeitmöglichkeiten in einer Dienstunterkunft bleiben musste. Auch das slowenische Gericht reichte in dem Fall ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH ein.

Problematik – Was ist Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz

Für viele Branchen, wie bspw. im Gesundheits- und Pflegewesen, sind Arbeitszeitmodelle im Schichtbetrieb und mit unterschiedlichen Formen abgeschwächter Arbeitsleistung unentbehrlich, um den Bestand des Unternehmens, aber auch die Versorgung und Pflege der Patienten zu sichern. Etabliert haben sich dabei die Instrumente des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft.

Bereitschaftsdienst liegt vor, wenn sich der Arbeitnehmer für Zwecke des Betriebs an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebs aufzuhalten hat, damit er erforderlichenfalls seine volle Arbeitstätigkeit unverzüglich aufnehmen kann. Bereitschaftsdienst führt mithin zu einer Aufenthaltsbeschränkung, die mit der Verpflichtung verbunden ist, bei Bedarf unverzüglich tätig zu werden. Zu denken ist hier zum Beispiel an Krankenhausärzte mit Bereitschaftsdienst an Wochenenden oder Pflegekräften in der Nacht, die in Notfallsituationen rasch zur Stelle beim Pateinten sein müssen.

Für die Bereitschaftszeit hat der EuGH in mehreren Entscheidungen festgestellt, dass der Bereitschaftsdienst insgesamt Arbeitszeit im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) darstellt, die grundsätzlich auch vergütungspflichtig ist. Zu vergüten ist der gesamte Bereitschaftsdienst und nicht nur die darin enthaltene Vollarbeit, also Phasen des aktiven Arbeitseinsatzes. Möglich ist jedoch eine von der Vollarbeit abweichende Vergütung zu vereinbaren, etwa in Form einer Pauschalierung der Vergütung für den gesamten Bereitschaftsdienst.

Rufbereitschaft verpflichtet den Arbeitnehmer hingegen, auf Abruf die Arbeit alsbald aufzunehmen. Er kann sich dazu an einem Ort seiner Wahl aufhalten, muss jedoch seine jederzeitige Erreichbarkeit (z.B. per Pieper oder Smartphone) sicherstellen. Auch bei der Rufbereitschaft ist der Arbeitnehmer in der Wahl seines Aufenthalts aber nicht völlig frei. Er muss vielmehr in der Lage sein, bei Abruf die Arbeit in einer angemessenen, den Arbeitseinsatz als solchen nicht gefährdenden Zeitspanne aufzunehmen.

In der Praxis stellen sich – anders als bei dem Bereitschaftsdienst – im Zusammenhang mit der Rufbereitschaft typischerweise folgende Fragen:

  • Welche Anforderungen sind an die „jederzeitige Erreichbarkeit“ in der Rufbereitschaft zu stellen, d.h. welche Zeitspanne ist noch „angemessen“, um bei Abruf die Arbeitsleistung wieder aufzunehmen?
  • Wann liegt im Rahmen der Rufbereitschaft „Arbeitszeit“ i. S. d. Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) vor, die bei der Berechnung der Höchstarbeitszeit und einzuhaltenden Ruhepausen und Ruhzeiten zu berücksichtigen ist?
  • Welche „Arbeitszeiten“ sind in der Rufbereitschaft wie zu vergüten?

 

Entscheidung des EuGH

Arbeitszeit und Ruhezeit während des Bereitschaftsdienstes

In den beiden aktuellen Fällen bestätigt der EuGH seine bisherige Linie und stellt fest, dass Rufbereitschaft nur dann als „Arbeitszeit“(arbeitszeitrechtliche Bewertung) gewertet werden kann, wenn der Arbeitnehmer in dieser Zeit in erheblichem Maße in der Ausübung seiner Freizeit beeinträchtigt wird. Ausgangspunkt der Frage, ob Arbeitszeit vorliegt oder nicht, ist die Feststellung, dass die Bereitschaftszeiten eines Arbeitnehmers entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ nach der Richtlinie 2003/88 einzustufen seien. Beide Begriffe schlössen sich gegenseitig aus.

Arbeitszeit“ liege vor, wenn der Arbeitnehmer sich an seinem Arbeitsplatz befinden muss, der nicht mit seiner Wohnung identisch ist, und sich dort seinem Arbeitgeber zur Verfügung hält. Zeiten, in denen der Arbeitnehmer tatsächlich keine Tätigkeiten für seinen Arbeitgeber ausübt, stellten hingegen nicht zwangsläufig auch eine „Ruhezeit“ dar.

Unter Berücksichtigung dieser Differenzierung stellen Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft „Arbeitszeit“ dar, „wenn die dem Arbeitnehmer während dieser Zeiten auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, die Zeit, in der seine beruflichen Dienste nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.“ Im Umkehrschluss heißt das, besteht keine derartige Einschränkung, ist „nur die Zeit als „Arbeitszeit“ anzusehen, die mit der gegebenenfalls tatsächlich während solcher Bereitschaftszeiten erbrachten Arbeitsleistung verbunden ist.“ Es sei Sache der nationalen Gerichte, im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob eine derartige Beeinträchtigung bzw. Einschränkung vorliegt. Dabei dürften nur solche Einschränkungen Berücksichtigung finden, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, Tarifverträge oder seinen Arbeitgeber direkt auferlegt werden. In die Entscheidungsfindung sei vor allem mit einzubeziehen, wie der Zeitraum gestaltet ist, innerhalb dessen der Arbeitnehmer seine Arbeit wieder aufnehmen muss. Unberücksichtigt haben hingegen organisatorische Schwierigkeiten zu bleiben, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann. „Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen kann, nur wenige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten bietet.“

Berücksichtigung bei der Berechnung von Höchstarbeitszeit, Ruhepausen und Ruhezeit

Liegt aufgrund der „eingrenzenden Ausgestaltung“ im Rahmen von Rufbereitschaft „Arbeitszeit“ vor, muss diese bei der Berechnung von Höchstarbeitszeit, Ruhepausen und Ruhezeit mithin berücksichtigt werden. Die wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden darf im Durchschnitt von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen und die Ruhezeit von täglich 11 Stunden nicht überschritten werden (§§ 3 und 4 ArbZG).

Vergütung von Rufbereitschaft

Im Hinblick auf die Vergütungserwartung der Arbeitnehmer folgt bei Bejahung einer solchen Beeinträchtigung nicht automatisch, dass Zeiten der Rufbereitschaft zwingend wie „reguläre Arbeitszeit“ zu vergüten sind. Die aktuellen Entscheidungen des EuGH betreffen ausschließlich die Frage, wann „Arbeitszeit“ vorliegt, d. h. wie lange bis zum Erreichen der Höchstarbeitszeitgrenze gearbeitet werden darf und wann Ruhezeiten eingelegt werden müssen. Inwieweit auch eine Vergütung erfolgen muss, regelt die Entscheidung hingegen nicht.

Nach Ansicht des EuGH stehe die maßgebliche Arbeitszeit-Richtlinie 2003/88 insbesondere nicht der Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften, eines Tarifvertrags oder einer Entscheidung des Arbeitgebers entgegen, wonach bei der Vergütung Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht werden, und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet wird, in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden, selbst wenn diese Zeiten in vollem Umfang als „Arbeitszeit“ anzusehen sind. Umgekehrt steht es der Richtlinie 2003/88 ebenfalls nicht entgegen, wenn Bereitschaftszeiten, die nicht als „Arbeitszeit“ eingestuft werden können, in Form der Zahlung eines zum Ausgleich der dem Arbeitnehmer durch sie verursachten Unannehmlichkeiten dienenden Betrags, z. B. einer Pauschalvergütung, vergütet werden.

Da gem. § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG der gesetzliche Mindestlohn je „Zeitstunde“ zu zahlen ist, sind diejenigen Arbeitszeiten „mindestlohnrelevant“, die auch vergütungspflichtig sind. Für die Rufbereitschaft wird insoweit angenommen, dass diese nur dann mindestlohnrelevant ist, wenn sie wie Arbeitsleistung zu vergüten ist.

 

Fazit und Empfehlung für die Praxis

Rufbereitschaft „ohne Arbeitszeit“ ist weiterhin möglich. Entscheidend wird für Arbeitgeber sein, wie die Frist ausgestaltet wird, innerhalb derer der Arbeitnehmer nach Aufforderung die Arbeit wieder aufzunehmen hat und zum Arbeitsplatz bzw. Einsatzort begeben muss. Eine pauschale Frist verbietet sich jedoch. Vielmehr ist anhand des konkreten Falls, d. h. der konkreten Branche zu beurteilen, welche Frist angemessen ist, um noch keine Einschränkung anzunehmen. Zu berücksichtigen ist bspw., ob der Arbeitnehmer eine spezielle Dienstkleidung vor der Arbeitsaufnahme anlegen muss, der regelmäßige Arbeitsweg, aber auch Erleichterungen, also ob der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer beispielsweise einen Einsatzwagen zur Verfügung gestellt hat, mit dem von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung Gebrauch gemacht werden kann. Berücksichtigt werden muss von den Gerichten auch die durchschnittliche Häufigkeit der von einem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeit geleisteten Einsätze. Zudem ist zu betrachten, inwieweit der Arbeitnehmer seine Freizeit frei gestalten und sie seinen eigenen (persönlichen und sozialen) Interessen widmen kann und ob dies durch die mögliche Inanspruchnahme durch den Arbeitgeber objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigt wird. Daneben dürfen Sicherheit und Gesundheit des Arbeitnehmers nicht gefährdet werden.

Die Möglichkeit, innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung mit zur Verfügung gestelltem Einsatzfahrzeug unter Inanspruchnahme der mit dem Fahrzeug verbundenen Sonderrechte gemäß der Straßenverkehrsordnung die Dienststelle zu erreichen, ist nur dann Arbeitszeit, wenn die Gesamtbeurteilung dies gebietet. Abzustellen ist also immer auf den konkreten Einzelfall. Zu beleuchten sind Folgen und Häufigkeit – maßgeblich ist die Frage der erheblichen Beeinträchtigung für den Arbeitnehmer.

In Betrieben/Dienststellen mit Betriebsrat/Personalrat muss zudem beachtet werden, dass die Einführung wie Ausgestaltung des Bereitschaftsdienstes, z. B. ein Form eines Bereitschaftsdienstplanes, der bspw. die Uhrzeiten von Beginn und Ende des Dienstes festlegt oder bestimmt welche Arbeitnehmer wann Bereitschaftsdienst leisten solle, der Mitbestimmung unterliegen und in Form von Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen geregelt werden müssen.

Diese Möglichkeit ist vor allem im Hinblick auf die Höchstarbeitszeit und Ruhezeiten von besonderer Bedeutung. Die Betriebs- bzw. Tarifparteien können nämlich in gewissem Umfang von den Begrenzungen des Arbeitszeitgesetzes durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung abweichen, wenn in die normale Arbeitszeit „regelmäßig und in erheblichem Umfang“ Bereitschaftsdienst fällt (§7 Abs. 1 ArbZG). Diese Öffnungsklausel erlaubt Tarifparteien sogar sog. „24-Stunden-Dienste“. Von dieser Möglichkeit sollte Gebrauch gemacht werden, um ein höheres Maß an Flexibilisierung der Arbeitszeit zu ermöglichen.

Im Hinblick auf die Gestaltung der Vergütung für Rufbereitschaftszeiten kann berücksichtigt werden, dass die Belastung des Arbeitnehmers gegenüber der Vollarbeit geringer ist. Dennoch sollte die mit der Rufbereitschaft einhergehenden Einschränkung der Freizeitgestaltung angemessen vergütet werden, wobei im Einzelfall zu berücksichtigen ist, in welcher Häufigkeit und mit welchem zeitlichen Umfang Arbeitseinsätze voraussichtlich erfolgen. Auch hier bietet sich eine einheitliche Regelung in einem Tarifvertrag oder aber einer Betriebs-/Dienstvereinbarung an.

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Maren HabelMaren Habel

Fachanwältin für Arbeitsrecht,
Rechtsanwältin, Partnerin

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